Aktuelles

  • Veröffentlichungsdatum 18.09.2015
  • Ort
  • Art Meldung

Flüchtlinge benötigen psychotherapeutische Versorgung in Praxen und Flüchtlingsunterkünften

Ergebnisse aus dem Gespräch mit Elise Bittenbinder, Vorsitzende der AG der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer BafF e.V., und Dietrich F. Koch, Leiter der Berliner Einrichtung XENION: Psychosoziale Hilfe für Politisch Verfolgte e.V.

Am 15. September 2015 trafen sich in den Räumen der Bundesgeschäftsstelle, auf Einladung der DPtV, o.g. Leitungen der Berliner Flüchtlingshilfe mit dem DPtV Bundesvorstand. Zu Beginn stellten Frau Bittenbinder (KJP) und Herr Koch (PP) ihre Tätigkeiten vor. Die Einrichtung Xenion bestehe laut Koch seit 30 Jahren, Psychotherapie gehöre, neben psychosozialer Hilfen zum Angebot der Einrichtung. Xenion verstehe sich innerhalb der übergeordneten Struktur der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer  BafF e.V. (http://www.baff-zentren.org/ ) auch als Menschenrechtsinstitution. Denn v.a. die rechtliche und psychosoziale Beratung spiele bei Asylsuchenden eine übergeordnete Rolle. Ca. 1/3 der Menschen, die bei XENION ankommen, nehmen später auch Psychotherapie in Anspruch. Zum Angebot der Einrichtung gehören Deutschkurse, Mentorenprojekte für Ehrenamtliche wie auch weitere Einzelprojekte. Viele Zentren der BafF e.V. seien aufgrund der aktuellen Situation an der Grenze ihrer Belastbarkeit.

Erschwerend sei: Es gebe keine Regelfinanzierung, was für die dort Tätigen belastend sei. Nur 1/3 der Finanzierung stamme aus öffentlichen Mitteln. Die Finanzierung laufe über Drittmittel-Projekte und Spenden. Dies befördere Unsicherheiten. Doch Flüchtlinge benötigen Sicherheit und eine gute, konstante Begleitung, es sei viel Stabilisierungsarbeit notwendig und nach Bedarf (dieser sei groß) ein Aufarbeiten der traumatischen Erfahrung. Oft trete der psychotherapeutische Behandlungsbedarf jedoch erst später ein, wenn die existenziellen Themen (Wohnraum, Nahrung, Formalitäten, …) nicht mehr im Vordergrund stehen. Ein belastender Faktor sei v.a. der zu lange Asylprozess. Manche würden Monate bis Jahre auf eine Aufenthaltsgenehmigung warten. Dies führe des Öfteren zu Krisen bei den Asylsuchenden. In Berlin könne man psychotherapeutische Leistung über das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) und bei Indikation (bspw. PTSD) eine Kurzzeittherapie als Notfallversorgung beantragen, in einigen Bundesländern sei dies auch über die Kassenärztliche Vereinigung möglich. PP/KJP könnten sich die Kosten „theoretisch“ vom jeweiligen Bezirksamt zurückholen. Doch vielen Bezirksämtern fehle diese Kenntnis. Hier bedarf es der Aufklärung von Sachbearbeiter/innen.

Laut Bittenbinder/Koch benötigen Flüchtlingshilfe-Einrichtungen eigene Ermächtigungen für die psychotherapeutische Behandlung, und es bedarf weiterer Ermächtigungen für Privatpraxen. Hinweis: Die Bundespsychotherapeutenkammer hat dazu am 16.9.2015 Informationen herausgegeben. Für die psychotherapeutische Behandlung seien möglichst erfahrene Therapeuten gefragt, die die Bereitschaft mitbringen, sich auch über den Aufenthaltsstatus einer Patientin/ eines Patienten zu informieren und die mit ausgebildeten Übersetzer/innen und Dolmetscher/innen zusammen arbeiten können. Die Kosten für die Übersetzung seien hoch, insbesondere für Schulung und Entlohnung von spezifisch qualifizierten Dolmetscher/innen. Eine reine Sprachübersetzung sei kostentechnisch zwar günstig (zw. 12-15 Euro), jedoch in diesem Kontext nicht wirklich ratsam, weil oft mehr Wissen notwendig sei. Eine qualifiziertere Übersetzung koste dann bereits mind. 24 Euro/je Std., eine weitere Qualifizierungs-Stufe der Dolmetscher/innen erfordere bis zu 50 Euro je Stunde, bspw. durch Kenntnis von medizinischen oder psychotherapeutischem Vokabular bzw. für erweiterte Sozialrechtkenntnisse. Es sei nicht immer leicht, zügig an versierte Übersetzer/innen bzw. Dolmetscher/innen zu kommen, hier bestehe bundesweit Nachqualifizierungsbedarf. Der Flüchtlingsrat Berlin hat bspw. online einen Adressordner bereitgestellt, in dem u.a. Informationen zu Dolmetscherdiensten stehen.

Auf unsere Frage: „Wie kann man den Herausforderungen politisch stärker begegnen?“ erwiderte Herr Koch, das kurzfristig Behandlungskapazitäten bereitgestellt werden müssten, je niedrigschwelliger umso besser. Problematisch bleibt: Bislang gibt es in Deutschland gar keinen Anspruch auf eine muttersprachliche Behandlung. Deutschland ist damit in Europa eines der letzten Länder, dass für die muttersprachliche Heilbehandlung keine Dolmetscher-Regelung hat. Englische Übersetzung reiche laut Koch meist nicht aus. Die Möglichkeit einer muttersprachlichen Therapie müsste also, so Bittenbinder, ein Teil der regulären Gesundheitsversorgung werden.

Ferner sollten alle dafür notwendigen Kostenstellen im SGB V benannt werden. Hierzu bedarf es entsprechender und zügiger Gesetzesänderungen, doch die Forderungen bestehen schon länger, und bislang sei noch nichts passiert, vgl. BPtK-Standpunkt aus 2010 Reformbedarf in der psychotherapeutischen Versorgung von Migranten“

In Deutschland gilt seit langem das Asylbewerberleistungsgesetz, d.h. nur die notwendigsten Behandlungen, bspw. Schmerzen, sind während der ersten 15 Monate nach Ankunft überhaupt erlaubt. Mit den Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes sei wiederum laut Koch die Krankenkasse zuständig, das werde vielerorts „vergessen“ oder eingeschränkt. Die Flüchtlingszentren seien (bislang) keine Vertragspartner der Kassen. Die Einrichtung Xenion erhalte, dies sei erfreulich, so viele Anfragen von potentiellen Helfern und Ehrenamtlichen, dass man sich in der Einrichtung entscheiden müsse: Mache man die eigentliche Arbeit weiter (Versorgung von Migranten/Flüchtlingen u.a.), oder will man die unzähligen Anfragen beantworten? Xenion kommt den Helfer/innen-Angeboten nicht mehr hinterher, hier bedarf es eindeutig größerer personeller und finanzieller Ressourcen für die Koordination.

Was können Psychotherapeuten also tun? Koch schlägt bspw. vor, dass freiwillige PP/KJP sich zunächst kundig machen in der eigenen Region und KV bzgl. der Modalitäten, bspw. über regionale Netzwerke oder den Landesverband, aktiv in Asyl-Einrichtungen gehen könnten. Man könne dort bspw. kleine Flüchtlingsgruppen mit Dolmetscher/innen und ggf. auch Ärzten und Sozialarbeiter/innen gemeinsam betreuen, so dass dort wenigstens 1-2x/Woche jemand vor Ort sei, die oder der zuhöre, denn das Zuhören helfe sehr. In Berlin gebe es zudem zahlreiche „Willkommensbündnisse“ , von dort aus seien „Patenschaften“ und andere Hilfen möglich. Xenion selbst suche bspw. Mentorinnen und Mentoren für unbegleitete Flüchtlinge.

Beide Leiter/innen raten davon ab, einfach „irgendetwas“ zu machen, ohne sich mit anderen Helfer/innen abzustimmen, sondern man sollte sich an bestehende regionale Institutionen und Netzwerke für Asylsuchende wenden oder aber: einfach spenden!

Weiterführende Links:

  • Versorgungsbericht BafF e.V. (mit Kontaktadressen) von Baron, J. & Schriefers, S. (2015). “Versorgungsbericht zur psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen Folteropfern in Deutschland“: 
  • BPtK-Artikel „Mindestens die Hälfte der Flüchtlinge ist psychisch krank“ und BPtK-Standpunkt: Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen“ sowie Infos zur Beantragung einer Ermächtigung: 
  • SPIEGEL ONLINE-Artikel zur mangelnden therapeutischen Versorgung von traumatisierten Geflüchteten, vom 20. August 2015
  • Spendeninformation  BafF-Zentren
  • Flüchtlingsrat Berlin